Anna die letzte "Eiderschnigge"©

Zum Bild des Amrumer Seezeichenhafens gehörte noch bis in die siebziger Jahre ein ungewöhnliches Schiff. An der Pier lag es meist vornan dicht an der Landseite, von vorn gut sichtbar. Dahinter lagen oft Büsumer Fischkutter. Etwa so groß wie ein Fischkutter war das Schiff, aber es sah völlig anders aus. Sein Rumpf war niedriger. Und besonders auffällig war seine enorme Breite. Das Schiff hatte einen hohen Mast und achtern ein kleines hölzernes Ruderhaus. Der Rumpf war aus Holz und schwarz. Die altertümliche Farbgebung zeigte hübsche Details. An der Bordwand in Höhe des Decks zog sich ein gelbes Band von vorn nach achtern. Weiß gestrichen waren die Oberkante des Schanzkleids und achtern eine kleine Galerie. Der Bugkeil unten am Rumpf war grün, die Klüsbacken am Bug trugen kleine geschnitzte Blätter- und Blütenornamente, die grün und gelb gefaßt waren. Auf kleinen Brettern am Bug stand der Name Anna. Man sah: Die Anna war ein sehr altes Schiff, ein Schiff aus einer anderen Zeit.

„Ich, der endesunterschriebene Schiffsbaumeister J. H. Kremer in Firma D. W. Kremer & Sohn zu Elmshorn, beurkunde und bekenne hierdurch, daß ich auf meiner Schiffswerft für den Schiffer Gerret Conrad Ricklefs zu Amrum eine zweimastige Schnigge aus Holz mit Fischertakelung, welche im Kiel 50 Fuß lang, oben 55 Fuß lang, vom Kiel bis zum unterkantenen Schandeckel 5 Fuß tief, über die Inhölzer 17 Fuß 6 Zoll breit ist – alles hamburger Maß – und ‚Anna‘ genannt wird, neu erbaut habe. Die akkordirte Bausumme habe ich in Baarzahlung erhalten, weshalb ich das bezeichnete Schiff dem Schiffer Gerret Conrad Ricklefs zu Amrum zum unbestreitbaren Eigenthum übertragen habe, allen Ansprüchen auf dasselbe entsage und den genannten Schiffer und jeden sonstigen Eigenthümer des Schiffes ermächtige, mit demselben alle Seeen, Ströme und Häfen seiner Bestimmung gemäß zu befahren oder aber auch das Schiff zu verkaufen, zu verpfänden und auf jede erlaubte Art darüber zu verfügen.“

So lautet der Beilbrief, das damals übliche Dokument, das die Ablieferung eines Schiffes von der Werft an den Reeder oder Schiffer belegt. Zu Elmshorn am 26. September 1891 unterzeichnete der damals 30 Jahre alte Schiffbauer und Werftbesitzer Johann Hinrich Kremer eigenhändig diese Urkunde, der Königliche Notar Johannes Hager beglaubigte sie.

Die Anna war eine Eiderschnigge. Auf der Eider, dem Eiderkanal und im nordfriesischen Wattenmeer waren die Schniggen die typischen Frachtsegler. Sie waren meist 15 bis 17 Meter lang, dabei breit und flach gebaut. Sie hatten einen breiten, niedrigen Kiel, der Schiffsboden stieg zu den Seiten nur minimal an, und sie hatten eine runde Kimm – das heißt, der Übergang von Boden zu Bordwand war rund und nicht rechtwinklig geknickt wie beim Ewer, dem Frachtsegler von der Elbe, der in weitaus höherer Zahl verbreitet war als die Eiderschnigge. Und anders als die Ewer hatten die Schniggen achtern keinen Spiegel, sondern ein rundes Heck. Wie alle flachbodigen Segler mußten sie Seitenschwerter führen, sonst hätten sie bei halbem oder vorlichem Wind nicht segeln können.

Die meisten Eiderschniggen entstanden auf Werften in Nübbel an der Eider. Aber auch anderswo an der Eider und auch an der Elbe wurden Schniggen gebaut. Schniggen von der Elbe waren vorn nicht so füllig und dick wie die von der Eider, sie waren schärfer und im Vorschiff nicht steil, sondern ausfallend gebaut. Zum letzteren Typ gehörte die Anna.

Eiderschniggen sind nie in großer Zahl gebaut worden. Im Jahre 1900 sollen noch 75 Schniggen existiert haben, die allesamt kurz nach dem Ersten Weltkrieg verschwunden waren – bis auf die Anna, die jahrzehntelang das letzte überlebende Exemplar dieses Typs gewesen ist.

Der Elmshorner Schiffbauer Johann Hinrich Kremer rechnete 1891 noch in hamburgischen Fuß, obwohl die regional unterschiedlichen Fußmaße bereits im Jahre 1875 im ganzen Deutschen Reich zugunsten des metrischen Systems abgeschafft worden waren. Ein hamburgischer Fuß entspricht 28,66 Zentimeter. Der Kiel der Anna war also 14,33 Meter, ihr Rumpf, wohl über beide Steven gemessen, 15,76 Meter lang. Über die Inhölzer, also über Spanten, betrug ihre Breite 5,02 Meter. Zählt man die dreieinhalbzölligen Planken hinzu, dürfte die Anna rund 5,19 Meter breit gewesen sein. Das Verhältnis von Länge zu Breite lag bei etwa drei zu eins. Das heißt, die Anna war, auch für damalige Verhältnisse, ein Schiff von enormer Breite.

Dafür war sie umso flacher. Von der Unterkante des Schandeckels, also der äußeren Decksplanke, bis zur Oberkante des Kiels war der Raum bloß 1,43 Meter tief. Der Autor dieser Geschichte ist im September 1971 unter Deck der Anna herumgekrochen und war überrascht, wie niedrig der Laderaum so eines doch relativ großen Schiffes sein konnte. Von Stehhöhe war keine Rede. Und beeindruckend waren die dicken, dicht beieinanderstehenden Spanten aus massiver Eiche. Sie waren 15 mal 18 Zentimeter stark und standen mit nur 20 Zentimeter Abstand auseinander. Der Tiefgang der Anna dürfte lediglich etwa 90 Zentimeter betragen haben, ideal für das flache Wattenmeer.

Eiderschniggen sind eigentlich Frachtschiffe. Nicht aber die Anna. Sie wurde bestellt und gebaut als Tonnenleger. Gerret Conrad Ricklefs aus Steenodde, der den Bau des Schiffes in Auftrag gegeben hatte, übte den Beruf des Vertragstonnenlegers aus. Das heißt, der Staat, damals vertreten durch die Königliche Wasserbauinspektion Husum, hatte ihn beauftragt, in den Gewässern um Amrum die Fahrwassertonnen auszulegen, sie zu beaufsichtigen und zu pflegen. Der Staat zahlte ihm einen festen Betrag, aber er war ein selbständiger Unternehmer, der sein Schiff und sonstiges Gerät auf eigene Rechnung anschaffen und unterhalten mußte.

Schon Gerret Conrad Ricklefs’ Vater und Großvater waren auf diese Weise tätig. Insgesamt versahen sechs Generationen der Familie Ricklefs den Tonnenlegerdienst, 135 Jahre lang, bis im Jahre 1983 der große staatliche Tonnenleger Johann Georg Repsold auf Amrum stationiert wurde, den dann auch noch ein Ricklefs als Kapitän führte. Das Amt des Vertragstonnenlegers war allerdings nicht erblich, es wurde jeweils neu ausgeschrieben. Vererbt wurden aber das familieneigene Schiff und das große Tonnenhaus, das die Familie Ricklefs in Steenodde errichtet hatte. Überdies führte jeweils der Vater seinen Sohn in die Arbeit des Tonnenlegers ein. So hatten die Ricklefs stets die besten Chancen auf eine Verlängerung des staatlichen Auftrags.

Der Tonnenbezirk Amrum umfaßte in den 1890er Jahren die Fahrwasser von Amrum nach See hinaus und bis Hörnum, Dagebüll und hinein in die Süderaue zwischen Hooge und Langeneß. Auch die Bake auf Seesand war zu betreuen. Knapp 80 Tonnen lagen damals hier aus. Sowohl die Größe als auch die Zahl der Tonnen erhöhte man im Lauf der Jahre, der alte Tonnenleger Diana war für die Aufgabe zu klein und auch zu alt geworden, und so ließ Gerret Conrad Ricklefs im Jahre 1891 die Anna bauen, für die er 4500 Mark bezahlt haben soll.

Die Arbeit des Tonnenlegers war damals ein mühsames Geschäft. Den Seezeichenhafen gab es noch nicht, und die Steenodder Mole wurde erst Mitte der 1890er Jahre gebaut. Aus dem Tonnenhaus brachte man jeweils eine Tonne per Pferdefuhrwerk an den Strand, wo die Anna trockengefallen lag. An Deck der Anna ließen sich wohl kaum mehr als zwei Tonnen stauen. An dem langen, kräftigen Ladebaum über Steuerbordseite wurde die Tonne nur mit Muskelkraft über Taljen an Bord und später samt Ankerkette auf Position im Fahrwasser über Bord gehievt. Im Logis im Vorschiff der Anna gab es sechs Kojen, sechs Mann also brauchte man oft für die Arbeit mit den schweren Tonnen.

Die Anna hatte anfangs keine Maschine, sie wurde nur unter Segeln manövriert. Ein Gemälde im Besitz der Familie Ricklefs zeigt sie in ihrem ursprünglichen Zustand unter vollen Segeln. Sie war als Gaffelketsch, also als Anderthalbmaster getakelt. An Großmast und Besanmast führte sie jeweils ein Gaffelsegel, am Großmast zusätzlich ein Gaffeltoppsegel. Vor dem Großmast setzte sie Stagfock und Klüver. Der lange Bugspriet war fest montiert und saß wie bei allen Eider-
schniggen oberhalb des Stevens, leicht nach oben geneigt. Typisch für eine Eiderschnigge war auch das Galionsknie, das dem Steven, im Profil gesehen, einen S-förmigen Schwung verlieh. Natürlich führte die Anna Seitenschwerter. Und ihr Beiboot hatte sie anscheinend stets im Schlepp.

Solange Gerret Conrad Ricklefs seine Arbeit als Tonnenleger regelmäßig und ordentlich erledigte, konnte er in der übrigen Zeit mit seinem Schiff machen, was er wollte. Allerdings durfte er dabei laut Anordnung der Königlichen Wasserbauinspektion vom 20. April 1892 das nordfriesische Wattenmeer nicht verlassen. So war denn die Anna manchmal als Frachtsegler oder als Ausflugsschiff unterwegs. Und natürlich war sie dabei, wenn es um Bergelohn ging. Die Wache oben auf dem Leuchtturm meldete ein Schiff in Seenot nicht nur telephonisch der Rettungsstation, sondern gab, in stiller Übereinkunft, durch Boten auch dem Tonnenleger Ricklefs Bescheid, der mit schnell zusammengetrommelter Mannschaft auf seiner Anna oft früher beim gestrandeten oder havarierten Schiff eintraf als das Rettungsboot oder die Boote anderer Amrumer, die auch am Bergelohn teilhaben wollten. Deswegen gab es manchmal Konflikte mit dem Strandvogt Volkert Quedens, bei denen es durchaus zu Handgreiflichkeiten kommen konnte. Die Vorfälle um die norwegische Bark Roma im Jahre 1894 und um den englischen Dampfer Cornelian anno 1939 sind von Helmut Martinen und Georg Quedens ausführlich beschrieben worden und werden daher hier nicht weiter ausgeführt. Auch bei der Bergung eines Teils der Ladung vom österreichischen Schnapsschiff Istro im Jahre 1899 spielte die Anna eine wichtige Rolle.

Im Jahre 1910 bohrte man durch den Achtersteven hindurch, um eine Schraube zu installieren, und die Anna erhielt einen kleinen Benzinmotor. Der war immer wieder defekt und wurde schon im folgenden Jahr von einem neuen Benzinmotor mit 20 PS ersetzt. Die Anna behielt aber ihre volle Besegelung.

Mit einer Decksladung Reet, die für Amrumer Dachdecker bestimmt war, verließ die Anna am 23. April 1913 den Hafen von Wyk auf Föhr. Die Hitze des Auspuffrohrs setzte das Reet in Brand. Der Schiffer Ricklefs legte die Anna in Wyk auf Strand, die Wyker Feuerwehr löschte die Flammen. Fast das ganze Deck und die Decksbalken bis zum Großmast waren zerstört.Im Jahre 1913 verlangte die preußische Staatsbürokratie plötzlich, daß ein Vertragstonnenleger ein nautisches Patent vorweisen müsse, und kündigte den Vertrag mit Gerret Conrad Ricklefs. Der war nun 62 Jahre alt und schon von Jugend an mit dem Tonnenlegen vertraut, doch ein Kapitänspatent hatte er nicht. Sein Sohn Hinrich Philipp Ricklefs aber, der weltweit auf großen Segelschiffen und Dampfern gefahren hatte, besaß das Patent als Kapitän auf Großer Fahrt, und er wurde nun per 1. Januar 1914 zum Vertragstonnenleger bestimmt. Sein Vater Gerret Conrad blieb bis ins hohe Alter weiter auf Tonnenleger und Tonnenhof tätig.

In der Bucht zwischen Wittdün und Steenodde baute man während des Ersten Weltkriegs den  Seezeichenhafen. Er sollte einem Tonnenlegerdampfer und dem Feuerschiff „Amrumbank“ Liegeplätze bieten, diente aber zunächst bis 1927 den Schiffen, Pontons und Baggern, die mit dem Bau des Hindenburgdamms nach Sylt zu tun hatten, als Werkstatthafen. Im Jahre 1928 dann zog das Tonnenlager aus dem familieneigenen Tonnenhaus in Steenodde um in den neuen staatlichen Seezeichenhafen.

Ebenfalls im Jahre 1928 ließ Hinrich Philipp Ricklefs der Anna einen neuen Dieselmotor von Deutz einbauen, der drei Zylinder hatte und 35 PS leistete. Der Besanmast mußte einem langen Auspuffrohr weichen. Nur am Großmast wurden weiterhin Segel geführt. Der lange Bugspriet wurde von einem ganz kurzen ersetzt, einen Klüver konnte man nun nicht mehr setzen. Die Seitenschwerter wurden abmontiert. Vom Segelschiff mit Hilfsmotor war die Anna zum Motorschiff mit Hilfssegel geworden.

In den zwanziger und dreißiger Jahren fuhr die Anna immer seltener als Frachtschiff, denn für diesen Zweck gab es inzwischen größere und schnellere Schiffe. Dafür machte sie immer häufiger Ausflugsfahrten mit Badegästen. Nach dem Krieg erhielt die Anna im Jahre 1947 wieder einen neuen Motor, einen MWM-Dieselmotor von 65 PS, den sie bis zuletzt behielt. 1949 bekam sie ein kleines Ruderhaus. Bis dahin war sie unter freiem Himmel mit der Pinne gesteuert worden, nun hatte sie ein Steuerrad.

Als er 75 Jahre alt war, im Jahre 1959, übergab Hinrich Philipp Ricklefs die Anna seinem 1918 geborenen Sohn Hinrich Christian Ricklefs, der zum 1. April auch das Amt des Vertragstonnenlegers übernahm. Wie sein Vater war er zur See gefahren und besaß ein Patent, und schon seit Kriegsende hatte er mit seinem Vater beim Tonnenlegen zusammengearbeitet.

Im Lauf der Zeit hatte man die Zahl der im Bezirk Amrum ausliegenden Tonnen fast verdoppelt auf rund 140 Exemplare, und nun kamen immer mehr schwere Leuchttonnen hinzu. Die kleine Anna mit ihrem schwachen Ladegeschirr wurde ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht. 1959 kaufte Hinrich Christian Ricklefs von der Wasserstraßenverwaltung den ausgedienten Tonnenleger Eider. Der war schon 52 Jahre alt und ursprünglich ein Segelschiff, aber aus Stahl und deutlich größer als die Anna. Er erhielt den Namen Hildegard und versah bis 1983 von Amrum aus als Tonnenleger seinen Dienst. Heute liegt die Hildegard als Museumsschiff in Husum an Land.

Die Anna kam fortan nur noch gelegentlich zum Einsatz, wenn Tonnenarbeiten im flachen Wasser zu erledigen waren, denn ihr Tiefgang war nur etwa halb so groß wie der der Hildegard. Manchmal gab es Fahrten mit Gästen oder der Familie. In den Sommermonaten der Jahre 1963 und 1964 charterte Bernhard Tadsen aus Nebel die Anna. Dessen ebenfalls Bernhard getaufter Sohn erinnert sich: „Mein Vater war damals Stauereiinspektor in Hamburg, doch er wollte im Sommer gern mit Feriengästen im Wattenmeer fahren. Die Anna lag unbeschäftigt im Hafen. Er fragte mich, ob ich den Sommer über mitmache. Ich fuhr zur See, sagte aber zu. Mein Vater nahm sich Urlaub.“

Und so suchten die Tadsens zusammen mit Hinrich Ricklefs in Hallen und Schuppen diverse Ausrüstungsgegenstände der Anna aus früheren Zeiten hervor, darunter die alte hölzerne Kappe, die die ganze lange Ladeluke abdeckte, auf beiden Seiten Sitzbänke bot und in der Mitte ein Oberlicht hatte. Aus dem Tonnenhaus in Steenodde förderten sie die alten Segel zutage. Nun brauchte man noch den Erlaubnisschein der Berufsgenossenschaft. Der Besichtiger in Husum jedoch, den man kannte, hatte Urlaub. Sein Stellvertreter, der die Verhältnisse nicht genau kannte, war entsetzt, als er ein Segelschiff von 1891 für die Beförderung von Fahrgästen zulassen sollte, und lehnte ab. Als aber der Chef zurück war, sagte der: „Die Anna ist eins der besten Schiffe im ganzen Wattenmeer!“ Und die Erlaubnis wurde erteilt.

So war dann die Anna den ganzen Sommer 1963 bis in den September mit Badegästen unterwegs. Die Ausflugsfahrten starteten allerdings nicht auf Amrum, sondern in Hörnum auf Sylt. Daher wohnten die Tadsens an Bord. Bernhard Tadsen senior hatte seine Frau mit. Der Junior schlief vorn im Logis, die Eltern im Laderaum, wo man unter der Kappe mit dem Oberlicht immerhin stehen konnte. Sie hatten sogar eine kleine Toilette eingebaut, mit einem Eimer, den man über Bord entleerte.

Bernhard Tadsen junior sagt: „Die Ausflugsfahrten verliefen ohne festes Programm. Je nach Wind und Wetter gingen sie beispielsweise zu den Seehundsbänken oder zur Amrumer Nordspitze. Oft wurden Fische und Seesterne gefangen. Bei günstigem Wind setzten wir Segel. Und auf der ersten Fahrt kam in Hörnum eine junge Dame an Bord, die später meine Frau wurde.“

Im Sommer 1964 wiederholten die Tadsens ihre Ausflugsfahrten ab Sylt. Danach lag die Anna im Amrumer Hafen jahrelang still. Schließlich meinte Hinrich „Hinne“ Ricklefs, es sei besser, das nutzlos herumliegende Schiff zu verkaufen. Im August 1970 kam von Hörnum mit dem Motorboot Ambronia Edgar „Eddie“ Fricke herüber. Der war mit Amrumer Angelegenheiten vertraut, denn er war mit den Tadsens befreundet, besonders mit Helmuth Tadsen, dem Bruder von Bernhard Tadsen senior und Kapitän des Amrumer Ausflugsschiffes Hansa, den er in Hamburg schon als Kind gekannt hatte. Die Ambronia hatte er von dem Amrumer Kapitän August Jakobs gekauft.

Eddie Fricke, damals 47 Jahre alt, besaß in Hamburg eine Schiffsausrüstungsfirma, und in Hörnum auf Sylt besaß er 1300 Strandkörbe. Damit war er Deutschlands größter privater Strandkorbvermieter. Er hatte Geld, und er hatte viele Pläne. Er wollte die alte Anna kaufen, und er wollte sie wieder als Segelschiff originalgetreu aufriggen und sie als Privatjacht oder für Touristenfahrten nutzen.

Am 20. August 1970 lag die Ambronia im Amrumer Hafen. In der Kajüte saßen neben Eddie Fricke der Anna-Eigner Hinrich Christian Ricklefs und wohl auch dessen neunzehnjähriger Sohn Hinrich William Ricklefs, ferner der Chef des Seezeichenhafens, Helmut „Heike“ Martinen. Dessen Sohn Cornelius „Nelus“ Martinen war auch dabei und erinnert sich: „Es gab ziemlich viel Grog. Dann wurde der Kaufvertrag gemacht und unterzeichnet.“

Auf Amrum war man bestürzt, als Eddie Fricke erklärte, er wolle der Anna einen neuen Namen geben. Aber man war beruhigt, als er sagte, das Schiff solle nun Anna von Amrum heißen. Er brachte die Anna nach Hörnum, wo er sie in den Originalzustand zurückversetzen wollte. Bald jedoch geriet Eddie Fricke in gesundheitliche und andere Schwierigkeiten, die, wie es heißt, wohl auch mit Alkohol und Drogen zusammenhingen. Offenbar hatte er sich mit der Anna übernommen. Nichts passierte. Schließlich holten die Ricklefs die Anna erst einmal wieder zurück nach Amrum.

Hans Jürgen Hansen, der Vater des Autors, war Leiter der Olympia-Ausstellung „Mensch und Meer“ in Kiel, die dann am 10. Mai 1972 eröffnet wurde. Er suchte nach einem historisch wichtigen Originalschiff. Damals begann langsam das Bewußtsein zu erwachen, daß alte traditionelle Schiffe als Denkmäler ebenso erhaltenswert sind wie alte Schlösser oder Bauernhäuser. Hans Jürgen Hansen kannte die Anna und wußte um die Einmaligkeit dieser letzten Eiderschnigge. Er versuchte, sie für die Ausstellung nach Kiel zu holen. So begab er sich dann am 16. August 1971 zusammen mit dem Autor zur Anna an den Hafen und anschließend nach Steenodde zu einem Gespräch bei Hinne Ricklefs senior und junior. Mit denen hatte Eddie Fricke, der ja weiter Eigentümer der Anna war, verabredet, daß sie das Schiff beaufsichtigen, solange er es nicht konnte.

Hans Jürgen Hansen kam ursprünglich aus Bremerhaven. Dort hatte man 1971 das Deutsche Schiffahrtsmuseum gegründet, das dann 1975 eröffnet wurde. Hans Jürgen Hansen hatte die Idee, daß die Anna nach der Kieler Ausstellung dort als Museumsschiff landen könnte, und interessierte einen der Gründungsdirektoren des Museums, Detlev Ellmers, für die Idee. Der kam am 3. September 1971 nach Amrum. Am Hafen und im Haus Hansen beim Leuchtturm führte man Gespräche. Am 5. September kam Eddie Fricke von Hörnum, man besichtigte die Anna ausführlich an und unter Deck, und man verhandelte.

Leider zerschlug sich das Projekt mit der Olympia-Ausstellung. Später hieß es, das habe an einer zu hohen Preisforderung Eddie Frickes oder an den Renovierungskosten, die ein Gutachter fälschlich viel zu hoch ansetzte, gelegen. Der Autor meint sich aber zu erinnern, daß zum einen der Prähistoriker Ellmers sich nicht so interessiert zeigte an einem simplen Arbeitssegler aus der Zeit der Jahrhundertwende und zum anderen Eddie Fricke unschlüssig war, ob er die Anna überhaupt verkaufen wollte.

Zur Olympia-Ausstellung nach Kiel kam statt der Anna dann die Grönland, das Schiff der ersten deutschen Polarexpedition im Jahre 1868. Mit Hilfe von Gert Schlechtriem, dem zweiten Direktor des Deutschen Schiffahrtsmuseums, hatte Hans Jürgen Hansen das Schiff in Norwegen ausfindig gemacht. Es gehörte dem Reeder Egil Björn-Hansen, der es bereitwillig nach Kiel auslieh. Bei den Kieler Howaldtswerken wurde die Grönland wieder originalgetreu als Segelschiff aufgeriggt. Hans Jürgen Hansen hatte den Hintergedanken, daß das Schiff nach der Ausstellung sicherlich nicht wieder nach Norwegen zurückkehrt, und so kam es auch. Er bewegte den Eigner Egil Björn-Hansen, die Grönland abzugeben, und vermittelte sie an das Deutsche Schiffahrtsmuseum, wo sie noch heute als ältestes schwimmendes und segelndes Exponat zu Hause ist.

Die Anna aber blieb im Amrumer Hafen an den Pfählen liegen. Eddie Fricke konnte sich nicht kümmern. Im Oktober 1972 wurde sie leck und sank. Man pumpte sie lenz und legte sie vor der Nordseite der Hafenmole auf Grund. Die Tide ging durch den Rumpf, der Laderaum füllte sich mit Schlick. 1973 besuchte Joachim Kaiser, der in der Zeitschrift „Yacht“ leidenschaftlich für den Erhalt alter Traditionssegler plädierte, die Anna und warb für ihren Verkauf an einen Liebhaber oder ein Museum, doch es fand sich kein Interessent. Am 12. April 1974 ging der Autor dieser Geschichte zur Anna hinaus, die tief im Schlick lag, und schrieb in sein Tagebuch: „Anna völlig vergammelt.“

Familie Ricklefs fühlte sich in gewisser Weise immer noch verantwortlich für ihr altes Schiff, und es war bedrückend für sie, wie das Familienstück als Schiffahrtshindernis verrottete. Man überlegte, das desolate Fahrzeug von Amts wegen zu beseitigen. Doch plötzlich, im Herbst 1974, tauchte überraschend Eddie Fricke auf. Er ließ die Anna abdichten und im Oktober von einem Fischkutter um die Nordspitze nach Hörnum schleppen. Im hohen Alter von 83 Jahren hatte die Anna ihre Heimatinsel Amrum für immer verlassen.

In Hörnum legte man das Schiff auf die Seefliegerschleppe aus dem Zweiten Weltkrieg. Aus Eddie Frickes Plänen, das Schiff als Segler zu restaurieren und als Touristenattraktion einzusetzen, wurde wieder nichts. Am 17. Dezember 1974 schlug eine Sturmflut die Anna zum Wrack, das dann lange dort herumlag. Bei der Sturmflut im Januar 1976 wurde das Wrack schließlich regelrecht zertrümmert. Planken, Balken und Stücke des Rumpfes waren auf der schrägen Fläche der Schleppe und im Watt verteilt. Die Behörden forderten Eddie Fricke mehrmals vergeblich auf, die Wrackteile zu beseitigen.

Doch dann kam eine erstaunliche Wende. Im Frühjahr 1976 hielt sich ein Pionierbataillon der Bundeswehr aus Holzminden zu einem Übungseinsatz in Hörnum auf. Die Soldaten sprengten und entfernten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Hafenmeister fragte, ob sie die Reste der Anna gleich mit abräumen könnten. Der Bataillonskommandeur Thomas Domrös, wegen seiner Größe „Long Tom“ genannt, hatte jedoch eine andere Idee. Der Militärpfarrer des Bataillons, Günther Grigoleit, erinnert sich: „Thomas Domrös nahm mich beiseite und fragte, wie ich die Idee finde, die Holzteile mitzunehmen und das alte Segelschiff bei uns im Kasernenhof wieder aufzubauen, es als Treffpunkt für die Kameraden einzurichten. Ich fand die Idee großartig.“

Eddie Fricke war einverstanden. So rückten denn die Pioniere mit schwerem Gerät an. Die Tauchergruppe spülte das Wrack frei, die großen Stücke des Rumpfes wurden zersägt, und auf großen Bundeswehrlastwagen rollten die Bestandteile der Anna nach Holzminden am Oberlauf der Weser. Einer der Lastwagen kam nach Amrum, wo die Soldaten den Besanmast aus dem Schuppen holten und aus dem Watt bei Steenodde die alten Seitenschwerter bargen.

Vor der Kaserne setzten die Pioniere in monatelanger Arbeit die Teile wieder zusammen. Bei der feierlichen Kiellegung war auch Eddie Fricke zugegen, der dabei die Anna von Amrum offiziell an das Pionierbataillon übergab und ein entsprechendes Dokument unterzeichnete. Am 13. Juni 1976, es war ein Sonntag, war es dann soweit. Mit Marschmusik, Paraden, militärischen Kommandos und militärischem Zeremoniell, wie es die Anna nie zuvor erlebt hatte, feierte man die Fertigstellung des Schiffes, das prachtvoll dastand unter voller Besegelung und frisch gemalt. Eine große Zahl an Zivilisten nahm teil, in der Menge standen neben Eddie Fricke viele Amrumer, darunter zahlreiche Mitglieder der Familien Ricklefs und Martinen aus Steenodde.

Die Soldaten haben die Anna nicht in allen Details an Rigg und Rumpf wieder originalgetreu hingekriegt, mußten auch verrottetes Holz ersetzen. Aber sie haben die alte Eiderschnigge gerettet, was an der Küste niemand fertiggebracht hatte. Über der Ladeluke errichteten sie einen erhöhten Aufbau, denn unter Deck sollte für etwa zwanzig Leute Platz zum Feiern sein. Die Anna von Amrum war ein Ort, an dem anders als im Mannschafts- oder im Offiziersheim alle Dienstgrade willkommen waren für Gruppenabende, Diskussionsrunden, Geselligkeiten und sonstige Treffen. Und bei großen Feiern des ganzen Bataillons stand die Anna von Amrum festlich geschmückt und voll besegelt im Mittelpunkt.

Für das Schiff durften keine militärischen Gelder ausgegeben werden. Daher gründete man den „Freundeskreis des Museumsschiffes Anna von Amrum“, der Spenden einsammeln konnte. Besonderen Einsatz für die Anna zeigte Militärpfarrer Günther Grigoleit, der die Parole ausgab: „Einmal die Anna streicheln kostet fünf Mark.“

Der Erhalt eines alten Schiffes erfordert viel Geld und viel ehrenamtliches Engagement. Beim Aufbau der Anna hatte man frisches Kiefernholz verwendet, das bald faulte. Auch andere Teile des Schiffes begannen zu faulen und mußten im Lauf der Jahre ersetzt und neu aufgebaut werden. Der Aufwand zur Erhaltung wurde größer, das Interesse schwand. Irgendwann war Bataillonskommandeur Domrös weg, irgendwann war auch Pfarrer Grigoleit nicht mehr im Dienst. Dann sollte auf dem Kasernengelände ein neues Wirtschaftsgebäude errichtet werden. Die Anna stand im Wege. Der Kommandeur hatte vor, sie mit einem Kran anzuheben und umzusetzen. Aber das war nicht möglich, die Anna war völlig morsch. Der Kommandeur entschied, das Schiff abzuwracken. Im Juni 2002, also 111 Jahre nach ihrem Bau, war die alte Eiderschnigge Anna von Amrum verschwunden.

Clas Broder Hansen

 

 

 

 

 

 

 

 


 

An erster Stelle sei Dank gesagt Cornelius „Nelus“ Martinen in Flensburg, der den Autor mit zahlreichen Dokumenten, Photos und Informationen versorgte. Dank gebührt auch auf Amrum Jürgen Petersen, Hilla Randow, Leni und Hinrich „Hinne“ Ricklefs und Bernhard „Benne“ Tadsen, in Schacht-Audorf Martin Strauß, in Holzminden Günther Grigoleit sowie bei der Pionierkameradschaft Holzminden Gerd Backhaus, Dieter Cors und Gerhard Kreutzkamp.

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Clas Broder Hansen

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